Dynamische Demokonzepte vs. Berliner Polizeitaktik

In Folge enttäuschender Verläufe von (Groß)Demonstrationen, hatte sich bis Anfang des Jahres 2011 einigen Zusammenhängen und Individuen der Szene in Berlin, der Bedarf einer Weiterentwicklung eigener Demokultur aufgedrängt. Zuvor hatte die Bereitschaftspolizei bereits jahrelang die Schilder abgelegt, hatte Frontstellungen vermieden und kritische Menschenmassen „durchmischt“, bei gleichzeitigem Ausbau der Videodokumentation und übertriebener Vermehrung ziviler Tatbeobachter*innen. Die Beteiligung an Großdemonstrationen linker Bündnisse zu diversen Kriegen, Sozialabbau etc. wurde enttäuschend ob deren appelativem Charakter empfunden. Zu dieser Zeit existierten in der Stadt noch mehr Strukturen als heute, was es leichter machte, an einem Kontrollverlust zu bestimmten Anlässen zu arbeiten.

 

 

 

Den Anfang brachte die für den 2. Februar 2011 angekündigte Räumung der Liebig14 auf die Tagesordnung. Eine Bündnisdemo am 29. Januar von Kreuzberg nach Friedrichshain musste eskalieren – als positives Signal an ein vermutetes Mobilisierungspotential, als Abschreckungshandlung gegen die Bullenführung und um den Preis für die Räumung anzukurbeln. Als die Demonstration in die Rigaer Straße einbog, hatte sich das Bullenspalier zurück gezogen. Ganz freiwillig war dieser Rückzug nicht, denn es hätte auch schlimmer für Körtings Einheiten werden können. Entgegen vergleichbaren Situationen der Gegenwart, waren sofort zahlreiche Menschen dabei, den Gehweg aufzumachen und eine Hundertschaft einzudecken.

Video: https://www.youtube.com/watch?v=b3ZCJ_8g_TI

 

Diese Auseinandersetzung war zwar nach dreißig Minuten beendet, aber für die Beteiligten hatten sich Voraussetzungen für dynamische Situationen gezeigt:

 

1). Überraschung und Raum.

 

Aus einigen Kreisen entstand die Idee, dieses Konzept weiter zu entwickeln, sich mehr Raum durch mehr unvorhersehbare Bewegungen zu nehmen. Ziemlich offensiv wurde daraus eine Demonstration zum 10. Jahrestag der Ermordung von Carlo Giuliani entwickelt. Siehe http://rachefuercarlo.blogsport.de/

In der Erwartung, ein bestimmtes Spektrum mit einer offen als unangemeldet beworbenen Demonstration zu erreichen, wurde monatelang eine inhaltliche Auseinandersetzung über Aspekte der eigenen Sichtbarkeit und Möglichkeiten, über Begriffe wie Rache und Gedenkkultur geführt, durch deren kollektive Arbeitsweise am 16. Juli 2011 das Raumschutzkonzept der Bullen in Kreuzberg versagte und BFE Truppen gezwungen waren, recht erfolglos hinterher zu rennen. Wie auch im Januar wurde das politische Ziel erreicht und einige weitere wichtige Faktoren für die Auseinandersetzung um die Straße definiert:

2). Handlungsfähigkeit wächst durch Konspiration informeller Kreise bei gleichzeitiger Anschlussfähigkeit eines sympathisierenden Milieus.

 

Nachbereitungsvideo mit Bullenfunk: https://vimeo.com/26965725

 

Um ritualisierte Demos zu durchbrechen, wurde auf dieser Grundlage versucht, mehr Dynamik in die Sache mit dem ärgerlichen Polizeikongress zu bringen. Weil nicht alle Teilnehmenden solcher Veranstaltungen bereit sind, von Beginn an ein Verhaftungsrisiko einzugehen und um nicht in die Falle einer voreiligen Verschärfung der eigenen Praxis zu geraten, erschien es sinnvoll, die Demo am 28. Januar 2012 anzumelden und vom Herrfurth Platz in Neukölln zu starten. Der geplante Kontrollverlust trat am Reuterplatz ein, als Demoteile vom Kurs abwichen und damit Steinwürfe und Plünderungen auslösten. Als kritisch wurde registriert, dass viele Leute nicht von diesem Plan wussten. Über die Nacht hinweg ermächtigten sich zahlreiche Menschen unterschiedlichster Aktionsformen, begünstigt durch eine:

 

3). gewisse Berechenbarkeit für das eigene Potential.

 

Die Bullen rächten sich für ihre erneute Überrumplung später mit der Erstürmung einer Party in der Kadterschmiede. Aus einem Nachbereitungstext http://polizeikongress2012.blogsport.de/2012/02/07/28-januar-bewertung/ damals:

 

„Von Anfang an wurde in der Mobilisierung wert darauf gelegt, die Verantwortung für das, was passieren würde, nicht in einem geschlossenen Vorbereitungskreis zu bündeln. Dem entsprechend kamen Entscheidungen wie die Anmeldung der Demo, die Route, der Charakter und die inhaltliche Ausrichtung teils über Medien zustande, an denen sich Jede_r beteiligen kann, teils ohne jegliche erkennbare Debatte. Das hat unserer Meinung nach gut geklappt und wurde – ob durch schweigende Zustimmung oder durch aktiven Konsens – von allen Demoteilnehmer_innen getragen. Wer das Wort Teilnehmer_in hier im Sinne von Fußvolk oder Befehlsempfänger interpretiert, dürfte sich auch ordentlich gelangweilt haben… selbst schuld!“

Und weiteres dazu in einer Erklärung von Teilen der Vorbereitung. http://polizeikongress2012.blogsport.de/2012/02/02/erklaerung-zur-demo-am-28-januar/

Während der ganzen Phase gab es in jenen Jahren auch noch andere Demos, wo grössere Gruppen sich an den Vorkontrollen vorbei drängten oder durch Angriffe auf Ziele am Rand ein out of control Konzept umsetzten. Dabei wurden die Grenzen allerdings oft durch Linke oder Gewerkschaften aufgezeigt, die das Tempo verschleppten um BFE das Begleiten zu erleichtern, oder bewusst Routen wählten, die sehr ungünstig für Überraschungen sind. Nicht zu vergessen ist auch, dass die hier näher behandelten Beispiele autonome Mobilisierungen betreffen. Ist das Thema einer Demo übergreifend ins bürgerliche Lager, Antifa z.B., ändern sich auch die Koordinaten für Kontrollverluste. Denn einerseits ist mehr Deckungsmaße vorhanden, andererseits auch mehr Trägheit. Der in solchen Momenten der Empörung leider auch nur selten ausbrechende Krawall, wie bei der EZB Eröffnung 2015, ist nicht zu verwechseln mit eigenen dynamischen Demokonzepten.

Für den Polizeikongress 2013 schien einigen dann als nächster Schritt eine Sache wie die Carlo Demo angemessen, offen als unangemeldet beworben. Am 16. Februar 2013 starteten mehrere koordinierte Gruppen vom Mariannenplatz in Kreuzberg aus. Das wurde zwar überwiegend als Erfolg bewertet, der hastige Aufprall auf vorbereitete Hundertschaften in der Oranien- und Skalitzer Straße führte jedoch zu einem schnellen Umschalten auf dezentrale Konzepte. Mobilisierungsschwache Phasen wiederum stärken die Tendenz zu dezentralen Konzepten – und dynamische Demos gehen weiter zurück weil sich die sie tragenden Strukturen auflösen. Zum weiteren Verständnis sei auf zwei Auswertungstexte verwiesen, Erste Auswertung http://polizeikongress2013.blogsport.de/2013/02/17/erste-auswertung/ und Polizeikongressdemo http://polizeikongress2013.blogsport.de/2013/02/17/polizeikongressdemo/ .

 

In gewisser Weise endete diese Phase mit einer Straßenschlacht in Hamburg im Dezember 2013 zur Unterstützung der Roten Flora. Eine dumme Einsatzleitung, die frontal große Menschenmengen angreift und diesen zum Gegenschlag den Raum lässt, ist kein Ergebnis unseres Handelns sondern Zufall. Die Fähigkeit zu Straßenschlachten sollte losgelöst von dynamischen Demokonzepten gesehen werden.

Für den Verfasser dieser Zeilen steht somit bei der Demo gegen den Polizeikongress 2019 auch nicht der Aktionsfaktor im Vordergrund, sondern der Wiederaufbau von Strukturen, die ihre Tätigkeit nicht nur auf der Straße entfalten. Aber wenn sie es dort tun, dann auch mit der Fähigkeit zu

4). schnellen Entscheidungsfindungen.

Die Grundlage für die anderen drei Punkte sind neben informellen Absprachen auch offene Versammlungen vor Demonstrationen, bei denen, ohne jede Klandestinität über Bord zu werfen, der Kontakt und Austausch mit der von uns adressierten Öffentlichkeit gesucht werden kann. Demonstrationen laufen kaum alleine durch Aktionen von Kleingruppen aus dem Ruder, sondern nur wenn mehr Menschen sich auf eine Beteiligung vorbereiten wollen und können. (Im anderen Fall wären es reine Spontis oder Mobactions, deren gegenwärtige Seltenheit eine organisatorische Schwäche aufzeigt.) Der Kontrollverlust bei Demonstrationen ist ein Mittel der Propaganda und Agitation, so wie der Schwarze Block eine Taktik ist. Die Phase der Planung dieses Mittels ist oft das Interessanteste, denn die hierbei entdeckten Gemeinsamkeiten mit anderen können Ansätze von Bewegung auslösen – oder uns frühzeitig unserer Isolation in einer Szene bewusst werden lassen.

Schließlich könnten auch wieder mehr Ereignisse offen nachbereitet werden um mehr Gespür für unsere Möglichkeiten und Grenzen zu erlangen. Fehlen Vorbereitung und Nachbereitung bleibt dazwischen oft nur Stückwerk stehen. Insofern war die Demonstration der platzenden Investor*innen Träume zur Unterstützung der Rigaer94 im Juli 2016 zwar ähnlich der Liebig14 Demo im Januar 2011 ein gelungenes Beispiel autonomer Handlungsfähigkeit und individueller Selbstermächtigung. Sie blieb damit aber alleine stehen ohne weitere Konsequenzen in der Berliner Demokultur zu entwickeln.

 

Demonstration: Samstag 16.2.2019 | 17:00 Uhr | Frankfurter Tor | Berlin |